Darum braucht der Leistungssport aufgeklärte Sporteltern
Die Magglingen-Protokolle lösten 2020 in der Schweizer Sportwelt ein Beben aus. Dabei gelangten Dokumente über 8 Athletinnen an die Öffentlichkeit, die den Missbrauch in der Kunstturnausbildung an einem nationalen Sportzentrum dokumentierten. Alle Athletinnen berichteten von systematischen Einschüchterungen, Erniedrigungensowie psychischer und physischer Misshandlung durch Trainerinnen und Trainer.
Über sexualisierte Gewalt ging es gar bei dem Missbrauchsskandal in den USA. Ein Sportarzt hatte öffentlichen Berichten zufolge über Jahre hunderte Frauen und Mädchen bei USA Gymnastics und an der Michigan State University sexuell missbraucht. Unter ihnen die Goldmedaillen-Gewinnerinnen Simone Biles, Aly Raisman und McKayla Maroney. Die Täterinnen und Täter beider Fälle wurden inzwischen zur Rechenschaft gezogen, teils mit Freiheitsstrafen. Durch Rechtsprechung sind die Sportlerinnen zumindest rehabilitiert, einige zurück im Sport und wie im Fall von Simone Biles wieder zu Spitzenleistungen fähig.
Diese bekannten Beispiele stehen für die Spitze eines Eisbergs und stellvertretend über alle Einzel- sowie Team-Sportarten hinweg auch in anderen Ländern. Denn vergleichbare Vorkommnisse werden in aller Regel anonym behandelt, oder aus Angst erst gar nicht angezeigt. Mehr als 1/3 der Leistungssportlerinnen und Sportler in Deutschland haben im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Ermittlung der Prävalenz von sexualisierter Gewalt schlimme Erfahrungen benannt. Noch häufiger werden Sportlerinnen und Sportler aller Altersgruppen Opfer von psychischem Missbrauch. Die Zahlen sind alarmierend. Kommt es im Leistungssport aber zu physischer, psychischer, oder sexualisierter Gewalt, schlimmstenfalls von schutzbefohlenen Minderjährigen, dann ist der Sport kein „Safe Space“ mehr und Hilfe dringend nötig.
Um diese Situationen kümmert sich in Deutschland Safe Sport e.V., die unabhängige Beratungsstelle für Betroffene sexualisierter, psychischer und physischer Gewalt im Sport. Madeleine Johansson sprach für den DSE Deutsche Sporteltern Club mit Ina Lambert, Geschäftsführerin unserer neuen Partnerorganisation über die Arbeit von Safe Sport e.V., Prävention, Vereinskultur, Kinderschutz und auch darüber, welche wichtige Rollen den Fürsorgepflichtigen schutzbefohlener Athleten und den Eltern talentierter Kinder und Jugendlichen im Nachwuchsleistungssport zukommen.
DSE Deutsche Sporteltern im Gespräch mit Safe Sport e.V.
Ina, was war der Hauptauslöser für die Gründung von Safe Sport e.V. als unabhängige Ansprechstelle für Betroffene von sexualisierter, psychischer und physischer Gewalt im Sport?
Danke Madeleine für die Möglichkeit der Vorstellung unserer Arbeit bei der DSE. Studien haben gezeigt, dass Betroffene sexualisierter, psychischer und physischer Gewalt den bestehenden Ansprechstellen im organisierten Sport nicht ausreichend Vertrauen entgegenbringen. Als Ergebnis des Follow Up-Treffens zum Hearing „Sexueller Kindesmissbrauch im Sport“ im März 2021 wurde daher beschlossen, die Einrichtung einer bundesweiten unabhängigen Ansprechstelle für Betroffene sexualisierter, psychischer und physischer Gewalt im Sport zu prüfen und ein entsprechendes Konzept zu erstellen.
Das war also der Startpunkt. Und welche Ziele verfolgt Safe Sport e.V.?
Unser Ziel ist die Förderung eines gewaltfreien Sports durch die Zurverfügungstellung von Hilfe für Betroffene von sexualisierter, psychischer und physischer Gewalt im Sport.
Kannst Du etwas genauer beschreiben, welche spezifischen Angebote Ihr Betroffenen von Gewalt im Sport anbietet und welche Grenzen es gibt?
Wir bieten Betroffenen, Angehörigen und Beobachtern von interpersoneller Gewalt im Breiten- und Spitzensport psychologische und/oder juristische Beratung – anonym und kostenfrei. Wir beraten bundesweit telefonisch unter der Rufnummer 0800 11 222 00, online über die Safe Sport-App und vor Ort in Berlin. Es können sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene melden. Wir beraten betroffenenzentriert. Das heißt: Die ratsuchende Person bestimmt, was passiert und welche Schritte sie gehen möchte. Unsere Beraterinnen und Berater unterstützen einfühlsam, ressourcen- und lösungsorientiert. Natürlich kann eine Beratung aber keine psychotherapeutische Behandlung oder anwaltliche Vertretung ersetzen. Eine längerfristige Begleitung über zehn Beratungseinheiten hinaus ist nicht möglich. Bei Bedarf unterstützen wir bei der Weitervermittlung an andere Stellen wie psychosoziale Fachberatungsstellen vor Ort oder Opferanwälte.
Kannst Du kurz beschreiben, wie der Prozess abläuft, wenn sich Betroffene an Safe Sport e.V. wenden?
Wir hören erst einmal zu und klären gemeinsam das Anliegen. Die Person bleibt anonym, außer sie möchte gerne ihren Namen nennen. Manche haben konkrete Fragen, möchten das Erlebte oder Beobachtete erst einmal loswerden, oder wünschen eine Einschätzung dazu. Alle Inhalte werden streng vertraulich behandelt. Während der Sprechzeiten werden die Anrufe von einer Psychologin, einem Psychologen, einer Juristin oder einem Juristen angenommen. In der Online-Beratung und über Terminvereinbarung kannst man entscheiden, ob man psychologisch, oder juristisch beraten werden möchte. Da wir eng zusammenarbeiten, ist auch beides möglich.
Und was können Sportverbände und Vereine tun, damit ihre Mitglieder über die Angebote von Safe Sport e.V. informiert sind?
Im Downloadbereich unserer Website kann kostenfrei Info- und Werbematerial bestellt werden. Einfach unsere Poster, Postkarten oder Sticker anfordern und aushängen bzw. auslegen.
Das ist eine Möglichkeit. Aber welche Maßnahmen sollten Vereine konkret implementieren, um ein sicheres, gewaltfreies und damit auf Prävention ausgerichtetes Umfeld zu schaffen?
Vereine sollten sich beispielweise von allen ehren-, neben- und hauptamtlich Tätigen einen Ehrencodex unterzeichnen lassen und erweiterte Führungszeugnisse einholen. Es sollte ein Passus zu Gewaltfreiheit bzw. entsprechende Sanktionierungsoptionen in der Satzung verankert werden. Des Weiteren sollten Ansprechpersonen für das Thema geschult und ernannt werden, an die sich Sportlerinnen und Sportler wenden können. Es sollte ein Kinderschutzkonzept inklusive eines Interventionsplans erstellt werden. Bei diesbezüglichen Fragen kann man sich an den jeweiligen Landessportbund wenden. Letztlich geht es aber vor allem um eine Vereinskultur, die für das Thema sensibilisiert ist. Alleine die bloßen Richtlinien abzuhaken, reicht bei weitem nicht aus.
Gesetzt der Fall, ein Eingreifen wird notwendig. Wie sollten Vereine vorgehen, insbesondere im Umgang und in der Unterstützung von Betroffenen?
Im besten Falle gibt es einen Interventionsplan, der die Schritte festhält, an denen man sich orientieren kann. Es ist wichtig, verantwortungsvoll mit den Informationen umzugehen und Betroffenen gegenüber zu signalisieren, dass man sie ernst nimmt und sich darum kümmert. Und auch transparent zu machen, dass man sich dafür Unterstützung einholt. Denn Vereine sollten damit nicht allein bleiben, sondern sich bei externen Stellen – z.B. beim Landessportbund oder einer psychosozialen Fachberatungsstelle wie unserer, oder vor Ort Unterstützung einholen. Bei begründeten Verdachtsfällen sollten Beschuldigte freigestellt werden, bis der Sachverhalt genauer geklärt ist, um Betroffene zu schützen. Der Verein sollte genau abwägen, wer wann zu informieren ist. Die Möglichkeit einer Strafanzeige kann in Betracht gezogen, sollte aber gut mit den Betroffenen abgesprochen werden.
Worauf Eltern für ein sicheres Sportumfeld achten sollten
Worauf können Eltern achten, um sicherzustellen, dass ihr Kind in einem sicheren und somit gewaltfreien Sportumfeld aktiv ist?
Eltern können sich beispielsweise proaktiv nach den oben genannten Präventionsmaßnahmen erkundigen und einfach offen erfragen, wie der Verein diesbezüglich aufgestellt ist. Die Reaktion darauf kann auch schon viel darüber verraten, welche Kultur im Verein vorherrscht. Es ist schlichtweg falsch zu glauben: Wenn ein Verein sich das Thema Kinderschutz auf die Fahnen schreibt, vermittelt es, dass dieser ein Problem damit hat. Andererseits ist beispielsweise das Vorhandensein von Führungszeugnissen noch kein Garant für eine gewaltfreie Sportumgebung. Daher: Achtsam bleiben!
Kannst Du noch etwas zu Warnsignalen sagen und wie Eltern sich verhalten sollten, wenn sie diese vermuten? Wie können Eltern erkennen, ob ihr Kind möglicherweise Opfer von Gewalt im Sport ist, und welche Schritte sollten sie unternehmen?
Wenn das Kind früher Freude am Sport hatte und nun nicht mehr zum Training gehen möchte, lohnt es sich, mit dem Kind ins Gespräch zu gehen. Natürlich kann es sehr viele Gründe dafür geben, aber diese können auch an Personen vor Ort liegen. Es gibt aber auch viel subtilere Anzeichen, die leider nicht spezifisch sind. Daher sollten Eltern stets genau schauen: Wie geht es meinem Kind im Verein? Was beobachte ich selbst, wie mit den Kindern dort umgegangen wird? Wie nehmen es andere Eltern wahr? Ein schlechtes Bauchgefühl sollte man ernst nehmen. Anschreien, ungefragte Berührungen, sexualisierte Sprüche sollten nicht hingenommen werden! Wenn man unsicher ist, wie man etwas einordnen kann, gibt es Beratungsstellen wie unsere, die dabei helfen. Mögliche Handlungsschritte werden dann individuell besprochen.
Abschließend, welche langfristigen Ziele hat Safe Sport e.V. und wie können Verbände, Vereine und Eltern dazu beitragen, diese zu erreichen?
Safe Sport e.V. setzt sich für einen gewaltfreien Sport und für die Stärkung der Sichtweise Betroffener ein. Wir möchten, dass Betroffene wissen, wohin sie sich wenden können, wenn sie Hilfe brauchen. Sie sollen eine Wahlfreiheit haben, wenn sie den Mut aufbringen, das Erlebte jemandem anzuvertrauen – gerade, wenn sie Stellen innerhalb des organisierten Sports nicht mehr vertrauen. Wir bieten einen Safe Space und sind an ihrer Seite. Alle eingebundenen Personen können mithelfen, unser Angebot weiter bekannt zu machen, unseren SocialMedia-Kanälen (Instagram und LinkedIn) folgen und unsere Info-Material bestellen. Die Zusammenarbeit mit der DSE ist ein weiterer Schritt in eine hoffentlich irgendwann sichere und vertrauensvolle Welt des Sports, für alle Sportlerinnen und Sportler sowie für unsere talentierten Kinder und Jugendlichen im Nachwuchsleistungssport.
Vielen Dank für die wichtige Aufklärung und hilfreichen Informationen, Ina.
Downloads und Bestellmaterial
Unter diesem Link stehen weitere Angebote sowie das Download- und Bestellmaterial von Safe Sport e.V. zu Verfügung: https://ansprechstelle-safe-sport.de/